Apokalypse in Buenos Aires: Das Jahr der Wüste von Pedro Mairal
Albert von Brunn (Zurich)
„Vom fünfundzwanzigsten Stock schweifte der Blick über die ganze Stadt. Es war das Panorama der Mächtigen“ beschreibt Maria, die Hautperson in Pedro Mairals Roman [1] ihren Arbeitsplatz. „Es war keine besonders schöne Aussicht, aber wie geschaffen, um von hier aus Geschäfte zu tätigen, ein Ort wie in einem anderen Land, weit entfernt vom heimischen Schmutz, wie aus dem Flugzeug. Es war die schwindelnde Höhe der globalen Wirtschaft, der großen Finanzgesellschaften, wo es sich problemlos mit den Antipoden telefonieren ließ. Der Reiz lag in der Abgehobenheit, weit entfernt von der Dritten Welt“. Es ist Marias letzter Arbeitstag. In der Gestalt eines Unwetters nähert sich die Apokalypse der argentinischen Hauptstadt, Flüchtlinge strömen ins Zentrum, Panik erfasst die Stadtbewohner, die sich in ihren Wohnungen verbarrikadieren. Im Lauf eines Jahres wird Maria eine Art soziale Höllenfahrt durchmachen. Die Sekretärin in dem mit Spannteppich ausgelegten Büro wird nacheinander zur Krankenschwester, zum Zimmermädchen, zur Prostituierten und schließlich zur Sklavin eines Indianerstammes. Von der Stadt bleibt nur die Torre Garay, der Turm aus Stahl und Glas.
Der Turmbau zu Babel (Gen. 11,1-9) wird in der Bibel als soziale Katastrophe geschildert. Der Turm steht für Hochmut und Verwirrung und seine Zerstörung verweist auf die Unmöglichkeit der Kommunikation. Gleichzeitig ist Babel eine Kritik am Gigantismus moderner Metropolen[2]. Während alle sozialreformerischen Ansätze scheitern, wächst Babel vor unseren Augen in den Himmel, errichtet und zerstört seine Türme, nicht mehr aus Ziegelsteinen, sondern aus Stahl und Glas, und trägt dabei die Zerstörung im Stadtwappen, wie in der gleichnamigen Erzählung von Franz Kafka[3]. Die Torre Garay, benannt nach dem zweiten Stadtgründer von Buenos Aires, ist das einzige Überbleibsel der stolzen Stadt, Menetekel der Apokalypse wie die Barbarenfaust bei Franz Kafka.
El Matadero: Schlachthof der Geschichte
„Aus dem Nebel tauchte ein riesiges, düsteres Gebäude im Art-deco-Stil auf. Wir bemerkten es erst im letzten Augenblick, als wir bereits davor standen. Es schien, als sei es gebaut worden, um der Wildnis zu trotzen. Auf der Fassade war in riesigen Lettern zu lesen: Matadero. Spitze Türmchen verloren sich im Nebel. Was bedeutete das? Es war ein solider, autoritärer Zementbau, der aussah, als sei er für das Ritual einer düsteren Macht erbaut worden“[4].
Maria wird von einem hünenhaften Indianer verschleppt, der quer über den Bauch eine Tätowierung der Heiligen Jungfrau von Luján trägt. Bevor sie die Wildnis erreichen, taucht aus dem Nebel als letzte Erinnerung an die Zivilisation der Schlachthof auf, Emblem der argentinischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, einer Zeit der Wirren, Diktaturen und Bürgerkriege. Nach der Unabhängigkeit von Spanien 1810 zerfiel Argentinien in zwei Lager, Unitarier und Federalisten, die sich bis aufs Messer bekämpften. Die Unitarier wollten das Land nach französischem Vorbild modernisieren und aus Buenos Aires eine Art Paris des Südens machen. Zunächst jedoch siegten die Federalisten unter Juan Manuel de Rosas (1793-1877), der in den Jahren 1835-1852 eine blutige Diktatur errichtete. Aus dieser Zeit stammt die Erzählung El Matadero [5] (1839) von Esteban Echevarría (1805-1851), der für die jüngste Generation argentinischer Schriftsteller, die Kinder der Diktatur, den Status eines Kultautors angenommen hat. Diese Novelle verdichtet im Schlachthof die Allegorie der Grausamkeit. Dort werden zuerst Tiere geopfert und zum Schluss ein Mensch, ein politischer Gegner der Diktatur. Die Allegorie des Blutopfers ist nicht nur mit dem düsteren Gebäude im Art-deco-Stil verknüpft, sondern auch mit der daneben stehenden Kirche, die das Opfer rechtfertigt und den Diktator stützt. Geopfert werden in El Matadero Tierkörper und Menschenkörper, deren Schlachtung die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung verspricht, zunächst im Magen und danach in der Politik. Während sich der alttestamentarische Gott mit einem Tieropfer zufrieden gab, verlangen die neuen Götter nach Menschenopfern. Mit dem Schrei: „Da kommt ein Unitarier!“ [6] wird ein junger Mann auf den Opferaltar gezerrt, geschlachtet und sein Ende mit der Kreuzigung Jesu gleichgesetzt. Drei Elemente beherrschen die Erzählung – das gaffende Volk, das dargebotene Opfer und der zu besänftigende Gott. Das Volk will gesegnet und gefüttert werden, die Metzger sind gleichzeitig Henker und Priester eines blutigen Rituals, und der Diktator will von der hungrigen Masse in den Himmel gehoben werden, wofür er den Zuschauern mit der Überlassung der geschlachteten Jungtiere dankt [7].
Gemäß der politischen Philosophie Frankreichs ist die Stadt der Ort der Zivilisation, während das umliegende Land – in Argentinien zumeist Wüste genannt – das Reich der Barbarei darstellt. 1845 prägte der Schriftsteller Domingo F. Sarmiento (1811-1888) in seinem Buch Facundo[8] die Formel Zivilisation und Barbarei, um den Bruch zwischen europäischer und amerikanischer Kultur zu umschreiben: seit der Eroberung betrachtet Europa die Neue Welt als einen anderen Raum, Verkörperung positiver oder negativer Eigenschaften, wo Utopien der Unschuld und Antiutopien der Barbarei ihren Platz finden. In dem Moment, da Südamerika sich von Europa zu emanzipieren beginnt, wird dieser Dualismus wieder aufgegriffen[9]. Zu diesem Zeitpunkt war Buenos Aires von den Federalisten besetzt, also den politischen Gegnern von Domingo F. Sarmiento und Esteban Echevarría. Die Schriftsteller beschrieben die Stadt folgerichtig als einen Ort der Perversion und Gewalt, während sie gleichzeitig von einer modernen, europäischen Stadt träumten, einem Paris am Ufer des Río de la Plata[10]. So beruhte das literarische Buenos Aires von Anfang an auf einem Widerspruch zwischen einer Realität, die abgelehnt wurde, und einer Zukunftsvision, die in der Luft hing, die Utopie einer Generation romantischer Schriftsteller, die aus Europa zurückkamen und alles verändern wollten[11]. Im 20. Jahrhundert hörte Buenos Aires auf, eine Utopie zu sein und wurde zu einem Mythos, so bei Jorge Luis Borges und Manuel Mujica Lainez. Die Generation von Pedro Mairal erlebte einen radikalen Bruch. Ihre Lebenserfahrung wurde von einem Blutbad geprägt, das die Generäle nach dem Putsch von 1976 angerichtet hatten und das sie zu einer einsamen Kindheit und zum Rückzug auf einen begrenzten Freundeskreis zwang: „Meine Generation“ sagt der Autor in einem Interview [12] „musste ihre literarischen Vorbilder nicht umbringen, denn das hatten die Militärs schon besorgt. Wir, die wir Anfang Siebziger Jahre geboren wurden, hatten keine literarischen Vaterfiguren, sondern Großväter (...). Und mit den Großvätern gibt es keinen Streit“.
Kathodisches Koma: Kollaps der Moderne
„Ramón richtete die TV-Fernsteuerung auf meinen Vater und drückte auf den Knopf. Ich erstarrte. Papa machte Grimassen, ohne die Augen zu öffnen. Jedes Mal, wenn ich auf einen Pfeil drückte, um den Kanal zu wechseln, verzog Vater das Gesicht, ohne die Augen zu öffnen (...). Die Ärzte nannten das Kathodisches Koma. In allen Fällen handelte es sich um Fernsehsüchtige, die einen Grossteil ihres Lebens vor dem Bildschirm verbracht hatten und nach dem Ende des Programms langsam ins Koma gefallen waren, ein Koma mit intensiver Hirntätigkeit, als ob sie von ihrem eigenen Fernsehprogramm träumten“[13]
Während das Desaster immer mehr auf die Stadt zukommt, verrammeln sich die Vertreter der Mittelschicht in ihren Wohnungen und bilden kleine Forts, um dem Strom der Flüchtlinge zu widerstehen. Tunnels und behelfsmäßige Brücken verbinden die isolierten Häuserblocks, in denen Lebensmittel knapp werden. Die Landepisten des Flughafens werden unbenutzbar, alles – selbst Bücher – werden konfisziert, um Barrikaden zu errichten. Der Einzige, der von all diesen dramatischen Veränderungen unberührt vor sich hin dämmert, ist Marias Vater: mangels Strom wird das Fernsehprogramm ständig reduziert, und so versinkt er langsam ins Koma, aus dem er nicht mehr erwachen wird. Maria ist schließlich gezwungen, ihren Vater ins Krankenhaus zu bringen, eine Art Feldlazarett mitten im Bürgerkrieg. Der einzige Talisman, den der Vater nicht loslässt, ist die TV-Fernsteuerung. Sie wird auch seinen Tod auslösen. Als die Ärzte gezwungen sind, Platz für die zahlreichen Verletzten zu schaffen, tötet Maria ihren Vater mit der Fernsteuerung: Sie drückt auf den roten Knopf, und er hört auf zu atmen.
In den meisten Science-Fiction-Romanen ist das Weltenende nicht gleichbedeutend mit dem Verschwinden des Planeten; es bedeutet vielmehr das Ende einer bestimmten Lebensweise. Eine der beliebtesten Erzählstrategien besteht aus der Reduktion der Technologie. Statt neue Maschinen einzuführen, werden die Romanfiguren gezwungen, ohne vertraute Geräte auszukommen[14]. Die meisten Texte basieren auf dem Überleben der Hauptfigur und folgen einem festen Schema. Der Protagonist wird sich des Desasters bewusst und beginnt eine Reise durch die Wildnis, auf der Suche nach Überlebenden. Mit diesen entsteht eine neue Gemeinschaft, häufig in Form einer Ehe. Die Wildnis bedroht die junge Familie, sei es in Form von Krankheiten, Raubtieren oder Banditen. Es kommt zum Kampf, bei dem das Gute siegt und das Böse unterliegt. Im Roman von Pedro Mairal finden sich einige Elemente dieses modernen Science-Fiction-Romans, so das Überleben der Hauptfigur und das Entstehen einer Gemeinschaft. Doch wichtiger sind die Unterschiede: Von einem Happy End kann nicht die Rede sein. Der Roman endet mit dem Verlust der Sprache und der Flucht aus dem zerstörten Argentinien.
Unser modernes Verständnis der Apokalypse hat weniger mit Religion, denn mit Geschichte zu tun. Der Begriff wird immer wieder für Ereignisse im Zusammenhang mit nuklearen oder demographischen Katastrophen verwendet, ein Hinweis auf die enorme Fähigkeit des Menschen zur Selbstzerstörung[15]. Apokalypse ist kein Synonym für Desaster. Sowohl in der hebräischen (Daniel, Ezechiel, Zacharias) wie in der christlichen Tradition (Markus XIII, Matthäus XXIV, Offenbarung Johannis) wird das Weltenende aus der Perspektive eines Erzählers geschildert, der in radikalem Widerspruch zu den Mächtigen seiner Zeit steht und gleichzeitig unfähig ist, daran etwas zu ändern. So ist Johannes beispielsweise auf die griechische Insel Patmos verbannt worden. Entsetzt ob der Visionen, die ihn bedrängen, verschlingt er (Offenbarung 10:10) sein eigenes Buch, das er zu entziffern versucht[16]. Hier tauchen auch die meisten Elemente auf, die zum Repertoire der christlichen Ikonographie des Mittelalters gehören - die sieben Siegel, die vier apokalyptischen Reiter (Krieg, Unterdrückung, Hunger und Tod), die Hure von Babylon, die Kelter des Zorns, die Heuschreckenplage und der Höllenschlund[17]. Auch im Roman finden wir einige dieser apokalyptischen Zeichen: beim letzten Ausflug vor die Tore der Stadt erblickt Maria einen Kometen mit einem weißen Schweif, und in der Gegend von Luján wird sie von einem Heuschreckenschwarm heimgesucht, der die Ernte vernichtet. In der Kanalisation ihres Hauses schließlich haust ein grünes, schleimiges, einäugiges Monster[18].
In der christlichen Apokalypse des Johannes kommt es zu Unruhen und zur Herrschaft des Antichristen. Doch die Katastrophe wird gemildert durch die Wiederkehr Christi und die Gründung des Himmlischen Jerusalem, die Trostlosigkeit durch die Fruchtbarkeit. In El año del desierto kann davon keine Rede sein: Maria unternimmt alles, um nicht schwanger zu werden, da sie auf die Rückkehr ihres Verlobten Alejandro Pereira wartet, den die Militärs als Deserteur erschossen haben. Sie ist keine Heldin, lediglich eine Überlebende, die sprachlos und mit einer Schusswunde im Bein das letzte Schiff besteigt. Zurück bleiben nur das Meer und eine leere Pampa.
Bei der Entdeckung Südamerikas spielte die Apokalypse eine besondere Rolle: So zitierte Christoph Kolumbus in seinen Briefen an die Katholischen Könige Passagen aus der Offenbarung und aus dem Buch Jesaja, um zu belegen, dass er eine Neue Welt entdeckt hatte. Die Ureinwohner Amerikas wurden mit den Verlorenen Stämmen Israels (Offenbarung 7:4-9) gleichgesetzt, und ihre Bekehrung galt als Erfüllung der biblischen Prophezeiungen, die das Kommen des Gottesreichs ankündigten[19]. Von diesen Hoffnungen ist im Roman nichts mehr übrig. Die Welt entwickelt sich zurück – von der Zivilisation zur Barbarei. Maria verliert alles: die Stelle, die Wohnung, den Vater, den Verlobten, die Freiheit, die Gesundheit.
Joyce, der Urwald und das Schachbrett
„Es klingelt die Glocke, und die Bibliothek leert sich. Ich versorge die letzten Bücher, rücke die Stühle zurecht, gehe in den Kartenlesesaal, breite die alten Karten auf dem Tisch aus und betrachte Orte, Namen und Strassen“, so Maria am Ende ihrer Irrfahrt. „Mit dem Finger fahre ich Bahnlinien und Straßenzüge entlang und versuche, mich an die Ecken, Viertel oder Plätze dieses riesigen Schachbretts zu erinnern. Die Stadt, in der ich jetzt wohne, ist nicht geometrisch angelegt, sondern ein organisch gewachsenes Gewirr von Strassen, wie viele Städte Europas“[20]
Buenos Aires ist von Anfang an eine fremdbestimmte Stadt gewesen, Brückenkopf einer europäischen Kultur am Rio de la Plata. So bezeichnet bereits der deutsche Chronist Ulrich Schmidel (1500-1581) die erste Gründung der Stadt (1536) als ein Produkt der Phantasie. Das Schachbrettmuster geht auf die zweite Stadtgründung (1580) zurück. Der Grundriss besteht aus einem genau nach den Himmelsrichtungen orientierten Rechteck von 144 Häuserblöcken. Diese wurden durch das Aneinanderfügen immer neuer Quadratreihen erweitert, wodurch ein monotones, labyrinthisches Straßennetz entstand[21]. Die argentinische Hauptstadt wird durch zwei Grenzlinien bestimmt, die Pampa und den Fluss. Dazwischen liegt die Grauzone der Orillas, die unsichtbare Stadtgrenze. Niemals wurde Buenos Aires in seiner Entwicklung als abgeschlossen betrachtet. Der größte Eingriff war das Programm städtischer Umgestaltung nach französischem Vorbild unter Torcuato de Alvear (1822-1890), wobei ganze Viertel abgerissen wurden, um breiten Boulevards Platz zu machen, besonders der Avenida de Mayo[22]. Im Roman verschwindet dieses Prunkstück bürgerlicher Stadtplanung und macht dem Schlamm Platz. Das Paris des Südens mit seinem theatralischen Lebensstil geht zu Ende. Da trifft Maria einen irischen Matrosen namens Frank, der sie nach Europa mitnehmen will. Sie bricht in Tränen aus, kann sich aber nicht entschließen, Frank zu folgen: „Come on! Jump! Eveline! “[23] ruft er ihr zu. Dieser Name mobilisiert die Familiengeschichte und eine zweite literarische Stadt, Dublin: „Meine Urgrossmutter Eveline Hill bestieg 1910 allein ein Schiff in Dublin und überquerte den Atlantik, um ihren Verlobten in Buenos Aires zu suchen. Sie fand ihn nicht, wollte aber trotzdem bleiben. Sie überlebte, wie sie konnte, und hatte mit einem unbekannten Mann ihre einzige Tochter Rose“[24].
Diese Eveline Hill ist eine explizite Hommage an James Joyce und die Dubliner. In der gleichnamigen Erzählung[25] schildert Joyce, wie Eveline Hill ihr Elternhaus verlässt, um mit dem Matrosen Frank nach Buenos Aires zu reisen und dort ein neues Leben zu beginnen. Unschlüssig steht sie am Fenster und überlegt, ob sie das Risiko eingehen soll, mit Frank in ein unbekanntes Land zu reisen. Sie kann sich nicht aufraffen, ebenso wenig wie Maria im Roman von Pedro Mairal. Die Parallele mit James Joyce und Dublin erschöpft sich jedoch nicht in diesen Anspielungen. Dubliner entstand zwischen 1904 und 1907, als James Joyce seine Heimatstadt noch so gut in Erinnerung hatte, dass er keinen Stadtplan benötigte, um sie in allen Einzelheiten vor sich zu sehen. Zu seinem Freund, dem Künstler Frank Budgen, sagte Joyce einmal bei einem Spaziergang in Zürich, sein Werk könne dazu dienen, Dublin wieder aufzubauen, sollte die Stadt vom Erdboden verschwinden[26]. Hier liegt die Parallele zu Pedro Mairal: Maria, die Bibliothekarin im Exil, macht in der Mittagspause die Tür hinter sich zu, sagt laut Sätze in ihrer Muttersprache vor sich hin und beugt sich über die Karte von Buenos Aires, um den toten Stadtplan zum Leben zu erwecken, sich an ihre Heimat und ihre Personen zu erinnern.
Die Stadt der Dubliner war eine blockierte Kolonialstadt am Rande Europas. Der Künstler begreift, dass er das Land verlassen muss, um sich zu verwirklichen. Im Ulysses jedoch ist der Dichter Stephen Dedalus deprimiert in seine Heimatstadt zurückgekommen. Wohl hat er versucht, das traditionelle Geschichtsverständnis auf den Kopf zu stellen, aber er hat es nicht geschafft, der Geschichte zu entfliehen, weder seiner eigenen, noch der Irlands: „Die Geschichte, sagte Stephen, ist ein Albtraum, aus dem ich zu erwachen versuche“[27]. Dies ist auch das Schicksal der Maria Hill, Urenkelin der Eveline aus den Dublinern. Während in Irland der Albtraum aus britischer Fremdherrschaft und Unabhängigkeitskampf besteht, lastet auf Argentinien das unselige Erbe des Militärregimes: in den Jahren 1976-1983 gingen nicht nur die Demokratie und der Falkland-Krieg verloren, sondern das Geschichtsbewusstsein einer ganzen Generation. Aus einem solchen Albtraum zu erwachen, gelingt weder Stephen Dedalus noch Maria Hill. Über Karten und Pläne gebeugt, suchen sie nach den Spuren einer verlorenen Kindheit auf einem toten Schachbrett.
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Im Sommer 1985 arbeitete der italienische Schriftsteller Italo Calvino an einer Reihe Vorlesungen für die Harvard University, die er Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend nannte: „Mein Vertrauen in die Zukunft der Literatur beruht auf dem Wissen, dass es Dinge gibt, die einzig die Literatur mit ihren spezifischen Mitteln zu geben vermag“[28]. Er zählte einige dieser Merkmale auf – Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit, Anschaulichkeit und Vielschichtigkeit. Den sechsten Vorschlag konnte er nicht beenden: bei seinem Tod hatte er erst fünf seiner Thesen formuliert. Und so schlägt der argentinische Literaturkritiker Ricardo Piglia ein sechstes Merkmal vor – Dezentralisation und Distanz: das Zentrum verlassen und einen Standpunkt an der Peripherie einnehmen[29]. Einen solchen peripheren Standpunkt bezieht Pedro Mairal[30] in seinem postapokalyptischen Roman über Buenos Aires. Entstanden ist einer der faszinierendsten Romane aus dem Argentinien der Gegenwart[31].
Albert von Brunn (Zürich)
[1] Mairal, Pedro. El año del desierto. Buenos Aires: Interzona, 2005, S. 13.
[2] Gomes, Renato Cordeiro. Todas as cidades, a cidade: literatura e experiência humana. Rio de Janeiro: Rocco, 1994, SS. 81-83.
[3] Kafka, Franz. „Das Stadtwappen“ in: Das erzählerische Werk I. hrsg. Von Klaus Hermsdorf. 2. Aufl. Berlin: Rütten & Loening, 1988, SS. 346-347.
[4] Mairal, Pedro. El año del desierto. Buenos Aires: Interzona, 2005, S. 220.
[5] Echevarría, Esteban. El matadero. La cautiva. ed. de Leonor Fleming. 9a ed. Madrid: Ediciones Cátedra, 2004. (Letras hispánicas; 251)
[6] Ibidem, S. 108.
[7] Ramírez Caro, Jorge. „Ritualización de la muerte en El Matadero de Esteban Echevarría: estructura sacrificial” in: Imprévue 2(1995), SS. 51-66.
[8] Sarmiento, Domingo F. Barbarei und Zivilisation: Das Leben des Facundo Quiroga. Ins Deutsche übertragen und kommentiert von Berthold Zilly. Frankfurt am Main: Eichborn, 2007. (Die Andere Bibliothek; 271)
[9] Antonucci, Fausta. Città/campagna nella letteratura argentina. Roma: Bulzoni, 1992, SS. 13-18. (Letterature iberiche e latino-americane; 33)
[10] Waisman, Sergio. „De la ciudad futura a la ciudad ausente: la textualización de Buenos Aires” in: Ciberletras 9(2003) [keine Paginierung]
[12] Bertazza, Juan Pablo. „A la intemperie“ in: Página 12 8.1.2006, Radar Libros, S.1-2. Vgl. Drucaroff. Elsa. „Fantasmas en carne viva“ in: Boletín de Reseñas Bibliográficas N° 9-10 (2004) [im Druck].
[13] Mairal, Pedro. El año del desierto. Buenos Aires: Interzona, 2005, SS. 76-77.
[14] Wolfe, Gary K. “The Remaking of Zero: Beginning at the End” in: The End of the world. ed. by Eric S. Rabkin, Martin H. Greenberg, Joseph D. Olander. Carbondale: Southern Illinois Press, 1983, SS. 1-19.
[15] Zamora, Lois Parkinson. Writing the apocalypse: historical vision in contemporary U.S. and Latin American fiction. Cambridge: Cambridge University Press, 1989, S. 1.
[16] Ibidem, SS. 2,14.
[17] Ibidem, S. 11.
[18] Mairal, Pedro. El año del desierto. Buenos Aires: Interzona, 2005, SS. 70, 129, 202.
[19] Zamora, Lois Parkinson. Writing the apocalypse: historical vision in contemporary U.S. and Latin American fiction. Cambridge: Cambridge University Press, 1989, SS. 7-8.
[20] Mairal, Pedro. El año del desierto. Buenos Aires: Interzona, 2005, S. 7.
[21] Wenzel, Bettina. Der Buenos-Aires-Roman: Die Literarisierung der Großstadterfahrung bei zeitgenössischen argentinischen Schriftstellern. Bern: Lang, 1999, SS. 172-173. (Europäische Hochschulschriften. Reihe 24; 53)
[22] Campra, Rosalba. „Buenos Aires infundada“ in: La selva en el damero: espacio literario y espacio urbano en América Latina. Pisa: Giardini, 1989, SS. 103-117. (Collana di testi e studi ispanici. II. Saggi; 7)
[23] Mairal, Pedro. El año del desierto. Buenos Aires: Interzona, 2005, S. 165.
[24] Ibidem, S. 112.
[25] Joyce, James. „Eveline“ in: Dubliner. übersetzt von Dieter E. Zimmer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969, S. 35-40. (Frankfurter Ausgabe. Werke I)
[26] Pierce, David. James Joyce’s Ireland. New Haven: Yale University Press, 1992, SS. 83-84.
[27] Joyce, James. Ulysses. Übersetzt von Hans Wollschläger. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1975, S. 49. (Frankfurter Ausgabe. Werke 3.I)
[28] Calvino, Italo. Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend: Harvard-Vorlesungen. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1995, S.11. (dtv; 19036)
[29] Piglia, Ricardo. „Una propuesta para el nuevo milenio“ in: Margens/Márgenes N°. 2 (2001), SS. 1-3.
[30] Pedro Mairal (*1970), studierte Literaturwissenschaft und unterrichte englische Literatur an der Universidad del Salvador (USAL) in Buenos Aires. Sein erster Roman, Una noche con Sabrina Love (1998) wurde verfilmt und erschien 2002 beim Verlag Droemer Knaur in deutscher Übersetzung. Daneben veröffentlichte er einen Band Erzählungen (Hoy temprano, 2001) und zwei Lyrikbändchen (Tigre como los pájaros, 1996 und Consumidor final, 2003). El año del desierto ist sein zweiter Roman.
[31] Der Autor dankt Elsa Drucaroff, Mauricio Espil und Roberto De Luca für ihre Hilfe.